In unserem neuen Format «5 Fragen an» lenken wir unseren Blick auf das bedeutsame Thema «Kinder im Netz» und stellen versierten Expert:innen und Influencer:innen gezielte Fragen rund um das Thema "Sharenting".
"Wenn Kinder regelmässig auf den monetarisierten Social Media-Kanälen ihrer Eltern mitwirken, tragen sie meistens erheblich zur wirtschaftlichen Vermarktung dieser Tätigkeit bei. Oft sind diese Tätigkeiten nicht Freizeitaktivitäten, sondern beinhalten mehrere «Takes», einstudierte Choreografien, lange Arbeitszeiten, wenig Pausen und in den meisten Fällen auch keine Bezahlung."
Prof. Dr. Isabelle Wildhaber, eine renommierte Schweizer Juristin und Professorin, bereichert seit 2015 die Universität St. Gallen mit ihrer umfangreichen Expertise im Privat- und Wirtschaftsrecht.
Als Juristin und Professorin haben wir ihr speziell im Kontext ihrer Fachkenntnisse fünf Fragen zum Thema Sharenting gestellt, um ihr wertvolles Wissen dazu mit euch zu teilen.
1. Welche Rechte haben Kinder im Netz?
Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Kinder bestimmen über die Verwendung ihrer persönlichen Daten im Netz. Dieses Grundrecht wird im Datenschutzrecht umgesetzt: Die Erhebung, Bearbeitung und Nutzung dieser Daten benötigen die Zustimmung des jeweiligen Kindes. Diese Zustimmung wird aber regelmässig durch die Eltern wahrgenommen und erteilt.
Recht am eigenen Bild: Die Kinder dürfen entscheiden, ob, wie und wieviel Videomaterial und Fotomaterial von ihnen verwendet wird.
Recht auf Vergessenwerden: Die Kinder können damit die Löschung ihrer Daten durchsetzen.
Recht, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden (UN-Kinderrechtskonvention): Kinder dürfen nicht zu Arbeiten herangezogen werden, die potenzielle Gefahren bergen, die ihre Erziehung beeinträchtigen oder ihre Gesundheit sowie ihre physische, geistige, emotionale, moralische oder soziale Entwicklung schädigen könnten. Das Ziel ist die kindliche Unversehrtheit: Kinder sollen in ihrer Entwicklung geschützt werden und sollen sich dem «Kindsein» mit all den damit verbundenen Freiheiten widmen können.
2. Welche Pflichten haben Eltern gegenüber ihren Kindern im Netz?
Als gesetzliche Vertretung ihrer Kinder (Art. 304 ZGB) entscheiden Eltern grundsätzlich über die Verwendung der Daten ihrer Kinder, also auch Videos und Fotos. Dabei müssen die Eltern das Kindeswohl wahren. Diese stellt somit eine Pflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern im Netz dar. Da es sich hierbei um einen Aspekt der Persönlichkeit handelt (Art. 19c ZGB), muss für die Verwendung der Bilder minderjähriger Kinder jedoch deren Zustimmung eingeholt werden, sobald diese urteilsfähig sind. Kleinkinder sind aber diesbezüglich nicht urteilsfähig. Wenn also Eltern aus Selbstinszenierungs- oder Kommerzialisierungsgründen Videos und Fotos teilen, auf denen ihre Kinder zu sehen sind, so kann dies eine Pflichtverletzung in der Ausübung der elterlichen Vertretungsmacht darstellen. Das ist v.a. dann der Fall, wenn die Eltern vorwiegend Eigeninteressen verfolgen und das Kindeswohl nicht im Mittelpunkt steht. Sorgeberechtigte dürften deshalb eigentlich nur dann zu solchem Content zustimmen, wenn die Veröffentlichung im Rahmen der monetarisierten Tätigkeit auch im Interesse des Kindes ist.
"Als Sorgeberechtigte haben Eltern zudem die Pflicht zur Sicherstellung der physischen und emotionalen Verfassung des Kindes, wenn es im Netz exponiert wird. Die Eltern müssen dafür sorgen, dass die zeitlich-physische und emotionale Beanspruchung der Kinder im Rahmen der Produktion von Social-Media-Content (wie z.B. auf «Mummy Blogs», «Familien Vlogs» oder Posts mit Produktplatzierung) keine Intensität erreicht, welche zu schulischen, psychischen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt."
Überschreiten die Eltern die Grenzen ihres gesetzlichen Vertretungsrechts oder ihrer Erziehungspflicht, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) hinzugezogen werden.
3. Gibt es Bestrebungen zur Stärkung des Kinderschutzes in der Schweiz?
In der Schweiz wurde am 14. Juni 2023 eine Motion eingereicht «Übermässige Exponierung von Kindern im Internet (Sharenting und kommerzielle Nutzung von Bildern), Für eine garantierte Achtung des Rechts am Bild und des Arbeitsrechts». Diese verlangte eine Verstärkung des Kinderschutzes angesichts des Risikos der Ausbeutung im Internet.
Die Motion verlangt einerseits eine Verstärkung des Rechts am Bild, auf Basis der Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses. Andererseits verlangt die Motion eine Änderung der Verordnung 5 zum Arbeitsgesetz (Jugendschutz) in Bezug auf die kommerzielle Nutzung der Bilder von Kindern.
Der Bundesrat beantragte aber am 30. August 2023 die Ablehnung der Motion. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Möglichkeit der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) zu intervenieren, falls die Eltern einer oder eines Minderjährigen ihr Recht als gesetzliche Vertretung überschreiten, als Schutzinstrument ausreicht, um die Minderjährigen zu schützen. Ausserdem handle es sich bei der «Arbeit» der Kinder für die elterliche Content Creation nicht um einen Arbeitsvertrag, weshalb die Verordnung 5 zum Arbeitsgesetz (Jugendschutz) nicht zur Anwendung komme. Der Bundesrat erachtet die rechtlichen Rahmenbedingungen als ausreichend. Momentan sieht der Gesetzgeber also keinen regulatorischen Handlungsbedarf.
In meinen Augen ist aber der geltende Kinderschutz den Herausforderungen und Risiken von Praktiken wie Content Creation nicht gewachsen. Das Kindeswohl im Zivilrecht, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und der Datenschutz sind schöne Grundsätze, aber im Umfeld des monetarisierten Social-Media-Geschäfts nicht sehr schlagkräftig. Einmal hochgeladene Bilder und Videos bleiben auch nach einer allfälligen Löschung im Netz und die Einnahmen durch etwaig gesponserte Posts oder Produktplatzierungen fliessen vollumfänglich den Eltern zu. Grundsätzlich steht zwar ein Kindesvermögen den Kindern zu. Jedoch sind die zum Schutz der Kinder Verantwortlichen oftmals eben gleichzeitig die «Manager und Produzenten» des Contents und sie gehen mit den jeweiligen Agenturen oder Auftraggebern Verträge ein.
4. Wie könnte man diese gesetzlichen Lücken füllen?
In Frankreich oder in den USA sind spezifische Gesetze zu monetarisiertem Kindercontent auf Social Media verabschiedet worden. Diese schützen die Kinder durch gesundheits- und arbeitsbezogene Massnahmen sowie Meldungen bei der Veröffentlichung solchen Contents an entsprechende Behörden.
In der Schweiz haben meiner Meinung nach die Bestimmungen des Arbeitsrechts bzw. des Jugendarbeitsrechts Potenzial für einen griffigeren und spezifischeren Schutz für Kinder in der Content Creation. Das Arbeitsgesetz und dessen Verordnungen schützen Minderjährige durch strenge Regeln betreffend Gesundheits- und Jugendschutz an Arbeitsplätzen, was die Dauerbelastung für Kinder durch regelmässiges Filmen und Fotografieren reduzieren könnte. Der Jugendschutz knüpft aber an einen Arbeitsvertrag an. Er gilt nicht bei Social Media Influencer-Verträgen.
Gesetzlich sind vor allem zwei Bereiche noch nicht abgedeckt: Einerseits die Sicherstellung der emotionalen und physischen Gesundheit der Kinder, wenn sie für Content der Eltern «arbeiten», andererseits die Sicherstellung eines Teils des durch die «Arbeit» der Kinder generierten Einnahmen.
"Wenn Kinder regelmässig auf den monetarisierten Social Media-Kanälen ihrer Eltern mitwirken, tragen sie meistens erheblich zur wirtschaftlichen Vermarktung dieser Tätigkeit bei. Oft sind diese Tätigkeiten nicht Freizeitaktivitäten, sondern beinhalten mehrere «Takes», einstudierte Choreografien, lange Arbeitszeiten, wenig Pausen und in den meisten Fällen auch keine Bezahlung."
Das Tätigwerden der Kinder in diesem Rahmen findet abseits der Eltern-Kind-Beziehung statt und ähnelt vielmehr einem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis, weshalb auch die Bestimmungen zum Gesundheits- und Jugendschutz gelten müssten. Neben einem Anspruch auf Lohn würde dies ferner bedeuten, dass solche Tätigkeiten von unter 15-Jährigen vor der Aufnahme an kantonale Behörden gemeldet werden müssten und die Tätigkeit selbst in ihren zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen stark beschränkt sein müsste.
5. Welche Tipps kannst du Eltern und Creators im Umgang mit Kinderbildern im Netz geben?
Machen Sie es sich zur Gewohnheit, Ihr Kind erst zu fragen, ob es möchte, dass andere Leute dieses Foto sehen. Wenn das Kind dafür noch zu jung ist, so überlegen Sie sich sorgfältig und kritisch selbst, welche Bilder Sie von Ihren Kindern ins Netz stellen. Sind die Kinderbilder für den Content unabdingbar? Könnte Ihr Kind es Ihnen eines Tages übelnehmen, dass Sie z.B. als Content wählten, das Kind zu «pranken» und dabei seine Reaktion zu filmen? Dann wählen Sie doch einen anderen Content ohne Kind.
"Vergessen Sie ausserdem nicht, dass gelöschte Bilder im Internet nie ganz verschwinden, Sie die Kontrolle über ein Bild schnell verlieren und Sie ausserdem nicht wissen, was technisch in fünf Jahren mit Daten wie Stimme, Fotos, Videos alles noch möglich sein wird."
Weitere wichtige Informationen rund um das Thema Conscious Sharenting findest du auf unserer Info-Seite: https://www.consciousinfluencehub.org/sharenting
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